»Das Städtische ist mit einem Diskurs und einer Route oder einem Weg verbunden. Aus diesem Grund gibt es verschiedene Diskurse und Pfade in der Sprache. Das eine kann nicht vom anderen getrennt werden«. (Henri Lefebvre)
Die Verschränkung der verschiedenen Realitätsebenen ist die Idee meines Projektes Traverses. Es soll Form der im öffentlichen Raum platzierten Text-Collagen werden. Ich habe mich auf drei Quellen bezogen: aktuelle Graffiti-Statements; Essays, Romane und Gedichte, die in der Vorkriegszeit und während der deutschen Besatzung in Frankreich geschrieben wurden; theoretische Schriften aus der Nachkriegszeit. Zur ersten Gruppe gehören ausgewählte und transkribierte Graffiti-Sprüche, die in den Straßen von Marseille von 2018 bis heute gesammelt wurden. Das Spektrum zwischen den Polen »Murmeln des Alltäglichen« und der urbanen Straßenpoesie ist recht breit. Es gibt Raum für Banalität und Originalität, grobe Vulgarismen und subtile Neologismen, Worte von hoffnungsloser Traurigkeit und vitaler Fröhlichkeit, naivem Pathos und brillantem Humor. Die Aussagen sind meist anonym, daher direkt, offen und persönlich. Sie folgen oft ihren eigenen Regeln der Grammatik und Orthographie. Die Auswahl kann als eine Anthologie von »Gewächsen« gesehen werden, die in dem urbanen semantischen Feld gesammelt wurden, als Verkörperungen der vox populi. Zur zweiten Gruppe gehören Eindrücke von Marseille, geschrieben in den optimistischen 20er Jahren des letzten Jahrhunderts von Joseph Roth, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin und Beschreibungen der dunklen Zeit kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs: »wenn im Hafen von Marseille der halbe Kontinent versucht, auf einen anderen Kontinent zu fliehen«. Ich habe mich auf die Texte von Anna Seghers, Lion Feuchtwanger und Varian Fry, sowie Verse von René Char und Paul Valérys Stück Mon Faust bezogen. Theoretische Schriften von Henri Lefebvre, Jacques Derrida und Vilém Flusser bilden die dritte Quelle. Drei von ihnen hatten einen biographischen Bezug zur Provence: Henri Lefebvre studierte Philosophie in Aix-en-Provence, Jacques Derrida kam nach der Repatriierung aus Algerien nach Marseille, Vilém Flusser lebte einige Jahre in Robion, in der Nähe von Avignon. Die Erscheinung der vorgeschlagenen Textstücke erinnert an die visuelle Sprache der Werbung. Ich erwäge, auf Sperrholzplatten zu arbeiten, die die Fenster von ehemaligen Geschäften abdecken. Die Stücke sollen entlang der Rue de la République und kleineren Straßen in unmittelbarer Nähe verstreut werden. Ich habe mich für diesen Ort entschieden, weil er exemplarisch für das Dilemma von Urbanisten, Architekten und Politikern zu sein scheint: wie man etwas Neues schaffen kann, ohne dabei allzu viel zu zerstören. Die Rue de la République, zunächst Rue Impériale genannt, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts als Grand Boulevard im „Style Haussmannien« gebaut. Der Nebeneffekt der „Prachtachse« waren 935 abgerissene Häuser und zerstörte ehemalige Straßenstrukturen. Die zweite Welle der „Modernisierung« begann Ende des 20. Jahrhunderts.
Die Größe und Platzierung der Schriftgruppen hängt von den Proportionen und dem Charakter des Ortes ab, an dem das Werk realisiert werden soll. Ich habe die Besonderheiten der zitierten Graffiti-Sprüche beibehalten (die Textausrichtung, die Verwendung von großen und kleinen Buchstaben usw.) Alle Texte erscheinen in der Originalversion. Sie sollen mit wasserbasierter, semi-permanenter Farbe aufgetragen werden. Nach einigen Tagen soll die Farbe teilweise entfernt werden und die neuen Texte erscheinen palimpsestartig immer wieder neu. Die Schichten sollen ineinander verwoben und gleichzeitig sichtbar sein. Die verwendete Schriftart Caractères wird seit vielen Jahren für Straßenschilder in Frankreich verwendet.
Traverses ist eine Einladung zu einer virtuellen Reise zwischen den Ebenen der historischen und sozialen Realität: zwischen Epochen und Milieus, zwischen existenziellen Dramen, theoretischen Reflexionen und Poesie des Alltags. Meine Absicht ist die Visualisierung einer polyvalenten und mehrsprachigen Textur, die das Netz der Korrelationen erweitert und den Raum der Äußerung ausdehnt. Traverses könnte eine bejahende Antwort auf die Frage von Henri Lefebvre geben: »Ist es wirklich möglich, Wandflächen zu nutzen, um soziale Widersprüche darzustellen und dabei etwas mehr als Graffiti zu produzieren?«.
Traverses (Querungen)
2019/2020
»Das Städtische ist mit einem Diskurs und einer Route oder einem Weg verbunden. Aus diesem Grund gibt es verschiedene Diskurse und Pfade in der Sprache. Das eine kann nicht vom anderen getrennt werden«. (Henri Lefebvre)
Die Verschränkung der verschiedenen Realitätsebenen ist die Idee meines Projektes Traverses. Es soll Form der im öffentlichen Raum platzierten Text-Collagen werden. Ich habe mich auf drei Quellen bezogen: aktuelle Graffiti-Statements; Essays, Romane und Gedichte, die in der Vorkriegszeit und während der deutschen Besatzung in Frankreich geschrieben wurden; theoretische Schriften aus der Nachkriegszeit. Zur ersten Gruppe gehören ausgewählte und transkribierte Graffiti-Sprüche, die in den Straßen von Marseille von 2018 bis heute gesammelt wurden. Das Spektrum zwischen den Polen »Murmeln des Alltäglichen« und der urbanen Straßenpoesie ist recht breit. Es gibt Raum für Banalität und Originalität, grobe Vulgarismen und subtile Neologismen, Worte von hoffnungsloser Traurigkeit und vitaler Fröhlichkeit, naivem Pathos und brillantem Humor. Die Aussagen sind meist anonym, daher direkt, offen und persönlich. Sie folgen oft ihren eigenen Regeln der Grammatik und Orthographie. Die Auswahl kann als eine Anthologie von »Gewächsen« gesehen werden, die in dem urbanen semantischen Feld gesammelt wurden, als Verkörperungen der vox populi. Zur zweiten Gruppe gehören Eindrücke von Marseille, geschrieben in den optimistischen 20er Jahren des letzten Jahrhunderts von Joseph Roth, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin und Beschreibungen der dunklen Zeit kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs: »wenn im Hafen von Marseille der halbe Kontinent versucht, auf einen anderen Kontinent zu fliehen«. Ich habe mich auf die Texte von Anna Seghers, Lion Feuchtwanger und Varian Fry, sowie Verse von René Char und Paul Valérys Stück Mon Faust bezogen. Theoretische Schriften von Henri Lefebvre, Jacques Derrida und Vilém Flusser bilden die dritte Quelle. Drei von ihnen hatten einen biographischen Bezug zur Provence: Henri Lefebvre studierte Philosophie in Aix-en-Provence, Jacques Derrida kam nach der Repatriierung aus Algerien nach Marseille, Vilém Flusser lebte einige Jahre in Robion, in der Nähe von Avignon. Die Erscheinung der vorgeschlagenen Textstücke erinnert an die visuelle Sprache der Werbung. Ich erwäge, auf Sperrholzplatten zu arbeiten, die die Fenster von ehemaligen Geschäften abdecken. Die Stücke sollen entlang der Rue de la République und kleineren Straßen in unmittelbarer Nähe verstreut werden. Ich habe mich für diesen Ort entschieden, weil er exemplarisch für das Dilemma von Urbanisten, Architekten und Politikern zu sein scheint: wie man etwas Neues schaffen kann, ohne dabei allzu viel zu zerstören. Die Rue de la République, zunächst Rue Impériale genannt, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts als Grand Boulevard im „Style Haussmannien« gebaut. Der Nebeneffekt der „Prachtachse« waren 935 abgerissene Häuser und zerstörte ehemalige Straßenstrukturen. Die zweite Welle der „Modernisierung« begann Ende des 20. Jahrhunderts.
Die Größe und Platzierung der Schriftgruppen hängt von den Proportionen und dem Charakter des Ortes ab, an dem das Werk realisiert werden soll. Ich habe die Besonderheiten der zitierten Graffiti-Sprüche beibehalten (die Textausrichtung, die Verwendung von großen und kleinen Buchstaben usw.) Alle Texte erscheinen in der Originalversion. Sie sollen mit wasserbasierter, semi-permanenter Farbe aufgetragen werden. Nach einigen Tagen soll die Farbe teilweise entfernt werden und die neuen Texte erscheinen palimpsestartig immer wieder neu. Die Schichten sollen ineinander verwoben und gleichzeitig sichtbar sein. Die verwendete Schriftart Caractères wird seit vielen Jahren für Straßenschilder in Frankreich verwendet.
Traverses ist eine Einladung zu einer virtuellen Reise zwischen den Ebenen der historischen und sozialen Realität: zwischen Epochen und Milieus, zwischen existenziellen Dramen, theoretischen Reflexionen und Poesie des Alltags. Meine Absicht ist die Visualisierung einer polyvalenten und mehrsprachigen Textur, die das Netz der Korrelationen erweitert und den Raum der Äußerung ausdehnt. Traverses könnte eine bejahende Antwort auf die Frage von Henri Lefebvre geben: »Ist es wirklich möglich, Wandflächen zu nutzen, um soziale Widersprüche darzustellen und dabei etwas mehr als Graffiti zu produzieren?«.