PASTORALIST HOMES von Winfried Bullinger

Häuser der Viehhirten

Die hier gezeig­ten Bilder sind im Südsudan, in Äthiopien, in Uganda und in Kenia entstan­den. Die Serie umfasst Bauwerke in dauer­haf­ten und tempo­rä­ren Siedlungen der halbno­ma­disch leben­den Viehzüchter der Völker Dassanech, Turkana, Gabra, Rendille, El Molo, Kwegu, Surma, Bodi, Borana, Ik, Tepeth, Karamojong, Lotuko, Larim, Toposa, Mundari, Nyangatom und Nuer.

Der Blick auf Siedlungen aus der Entfernung hat mein Interesse für verna­ku­läre Architektur geweckt: Welche Bauwerke ermög­li­chen es ihren Bewohnern, ein Leben fernab der städti­schen Infrastruktur und unter teilweise extre­men klima­ti­schen Bedingungen zu führen? Eine Gemeinsamkeit der Wohnräume und sonsti­gen Strukturen – Zäune, Nahrungsspeicher und Ställe – ist bezeich­nend: Sie bestehen im Wesentlichen aus Materialien, die vor Ort verfüg­bar sind. Wie diese Bauwerke errich­tet werden, geben die Gesellschaften als geteil­tes Wissen von Generation zu Generation weiter. Denn verna­ku­läre Architektur bedeu­tet Architektur ohne Architekten (Bernard Rudofsky, 1905–1988). Die Konstruktionen sind Ausdruck einer tradi­tio­nell effizi­en­ten und gleich­zei­tig zukunfts­wei­sen­den Lebensweise im Umgang mit Ressourcen: dem Verzicht auf alles Überflüssige.

Die Bilder habe ich in den Siedlungen der Viehhirten aufge­nom­men, manche – etwa Aufnahmen von Zäunen oder Übersichten – auch außer­halb. Die meisten Orte habe ich über die Jahre hinweg mehrfach besucht. Ich befasse mich daher auch mit den zwischen­zeit­li­chen Entwicklungen und dem Verschwinden von Strukturen verna­ku­lä­rer Architektur.

Für die Serie benutze ich eine analoge Großformatkamera. Sie ermög­licht eine präzise Arbeitsweise und den Einbezug der Eigentümer in den Aufnahmeprozess, da das spätere Bild gut auf der großen Mattscheibe der Kamera zu sehen ist. Alle Aufnahmen bewohn­ter Räumlichkeiten sind in Begleitung der jewei­li­gen Besitzer entstan­den. Integraler Bestandteil meiner Arbeitsweise ist ein länge­rer Aufenthalt vor Ort, denn die Tageszeit, die einen je spezi­fi­schen Schattenwurf mit sich bringt, ist für den Zeitpunkt der Aufnahme bedeut­sam. Den Verlauf des Schattens beobachte ich über den Tag hinweg, bevor ich eine Entscheidung über den passen­den Moment treffe.

Zu den Grundbedingungen der pasto­ra­len Gesellschaft gehört die Fähigkeit, in verschie­de­nen, teils äußerst ariden Klimazonen durch Mobilität und Anpassung zu überle­ben. Die Regionen, in denen ich fotogra­fiere, sind beson­ders stark vom Klimawandel betrof­fen, und das schon seit Langem. In den vergan­ge­nen Jahren verstärk­ten sich beispiels­weise im Südsudan und in Teilen Äthiopiens Hitze- und Trockenperioden, starke Regenfälle mit Überschwemmungen und die Verschiebungen der Regenzeit. Der Klimawandel bestimmt das Bewegungsverhalten der Menschen in den betrof­fe­nen ländli­chen Regionen; es kommt verstärkt zu Konflikten benach­bar­ter Völker, wenn Gruppen in fremde Territorien eindrin­gen. Dies spiegelt die Bilderserie wider. Sie enthält beispiels­weise verfal­lene Gebäude der Borana, die ihr Gebiet aufgrund der Trockenheit verlas­sen haben. Zugleich passen Völker wie die Gabbra oder die Rendille ihre Zelte an die verän­der­ten Verhältnisse an, indem sie Kunststoffe in ihre Wohnkonstruktionen integrie­ren. Diese Materialien schüt­zen den Innenbereich vor eindrin­gen­dem Wind, Sand und Wasser.

Mit dem Wandel der Lebensweise gehen auch tradi­tio­nelle Formen ihrer Architektur verlo­ren. Wenn die Bauwerke aus Holzstäben, Gräsern oder Lehm nicht konti­nu­ier­lich repariert und erneu­ert werden, verschwin­den sie.

Die verna­ku­läre Architektur Afrikas ist ein Thema, das infolge der Kolonialzeit stark vernach­läs­sigt wurde. Die Europäer brach­ten ihre eigene archi­tek­to­ni­sche Sprache mit. Die Einführung von Materialien wie Beton und Eisen beein­flusste nicht nur die physi­sche Struktur der Gebäude, sondern auch die kultu­relle Identität der Völker. Die Dominanz der europäi­schen Architektur vor allem in den Städten blieb nach dem Ende der Kolonialzeit bestehen, tradi­tio­nelle Bauweisen wurden vielfach als nicht zeitge­mäß betrach­tet. Dieser Tendenz eine andere Perspektive entge­gen­zu­stel­len, ist ein zentra­ler Aspekt der Arbeit.

Gerade ist mein Buch Pastoralist Homes im Steidl Verlag erschie­nen, heraus­ge­ge­ben von Thomas Schirmböck. 154 Abbildungen, Texte von Germain Loumpet, Thomas Schirmböck und Winfried Bullinger.

English trans­la­tion below ↓

 

 

Dassanech, Hütte in nomadi­schem Lager mit Kalaschnikow, Äthiopien 2016

 

 

Dassanech, Wohnhaus im Bau, Äthiopien 2017

 

 

Turkana, Hütten verbun­den mit einem Windschutz, Kenia 2015

 

 

Turkana, tempo­räre Siedlung, Kenia 2015

 

 


Gabra, Mit einem Zelt belade­nes Dromedar, Kenia 2023

 

 

Rendille, Zelt, Kenia 2023

 

 

Gabra, Vorbereitung eines Zeltes für den Umzug, Kenia 2023

 

 

El Molo, Unterbau einer Hütte, Kenia 2015

 

 

El Molo, Windschutz bedeckt mit Pappe, Kenia 2015

 

 

Turkana, Nahrungsspeicher und Zaun, Kenia 2016

 

 

Turkana, Wohnhaus mit Türe aus Blech, Kenia 2016

 

 


Kwegu, Eingang eines Wohnhauses, Äthiopien 2018

 

 


Surma, Gestell zur Lagerung von Getreide, Äthiopien 2010

 

 

Bodi, Nahrungsspeicher in verlas­se­ner Siedlung, Äthiopien 2017

 

 


Borana, Hühnerstall auf Holzpfählen, Äthiopien 2018

 

 

Borana, verlas­se­nes Wohnhaus, Äthiopien 2017

 

 

 


Ik, Bergdorf mit Schutzzaun, Kenia 2021

 

 

Tepeth, Nahrungsspeicher, Kenia 2021

 

 

Tepeth, großer Nahrungsspeicher, Kenia 2021

 

 


Karamojong, Eingang zum Dorf, Uganda 2021

 

 


Karamojong, Stall, Uganda 2021

 

 

Karamojong, Wohngebäude, Uganda 2021

 

 

Lotuko, Gemeinschaftsgebäude für Versammlungen, Südsudan 2022

 

 

Lotuko, Bergdorf mit Terassen, Südsudan 2022

 

 

Larim, Wohnhaus mit Vorbau, Südsudan 2022

 

 

Larim, Gehöft, Südsudan 2022

 

 

Toposa, zwei Wohngebäude, Südsudan 2022

 

 


Toposa, zweistö­cki­ges Speichergebäude, Südsudan 2022

 

 

Mundari, Dachkonstruktionen, Südsudan 2020

 

 

Mundari, „Schatten“ für Versammlungen, Südsudan 2020

 

 

Mundari, Wohnhaus, 2020

 

 

Nyangatom, Dorf, Äthiopien 2024

 

 

Nyangatom, Wohnhaus umzäunt, Äthiopien 2024

 

 


Nyangatom, Getreidespeicher, Äthiopien 2016

 

 

Mundari, Wohnhaus, Südsudan 2020

 

 

Nuer, Dorf, Äthiopien 2011

 

 

Herders’ houses

The pictures shown here were taken in South Sudan, Ethiopia, Uganda and Kenya. The series includes buildings in perma­nent and tempo­rary settle­ments of the semi-nomadic pasto­ra­lists of the Dassanech, Turkana, Gabra, Rendille, El Molo, Kwegu, Surma, Bodi, Borana, Ik, Tepeth, Karamojong, Lotuko, Larim, Toposa, Mundari, , Nyangatom, and Nuer  peoples.

Looking at settle­ments from a distance sparked my interest in verna­cu­lar archi­tec­ture: Which struc­tures enable their inhabi­tants to live a life far from urban infra­struc­ture and under someti­mes extreme clima­tic condi­ti­ons? A common feature of the living spaces and other struc­tures – fences, food storage and stables – is signi­fi­cant: they are essen­ti­ally made of materi­als that are available locally. How these struc­tures are built is passed on from genera­tion to genera­tion as shared knowledge by the socie­ties. For verna­cu­lar archi­tec­ture means archi­tec­ture without archi­tects (Bernard Rudofsky, 1905–1988). The construc­tions are an expres­sion of a tradi­tio­nally effici­ent and at the same time forward-looking way of life in the use of resour­ces: the renun­cia­tion of all super­fluous things.

I took the pictures in the settle­ments of the herds­men, and some – such as pictures of fences or overviews – also outside. I visited most of the places several times over the years. I am there­fore also concer­ned with the interim develo­p­ments and the disap­pearance of struc­tures of verna­cu­lar architecture.

For the series, I use an analo­gue large-format camera. This enables a precise working method and the inclu­sion of the owners in the recor­ding process, since the subse­quent image can be easily seen on the camera’s large ground glass screen. All shots of inhabi­ted premi­ses were taken in the presence of the respec­tive owners. An integral part of my working method is spending a longer period on site, because the time of day that a speci­fic shadow cast brings with it is important for the time of the shot. I observe the course of the shadow throug­hout the day before deciding on the appro­priate moment.

The ability to survive in a variety of clima­tes, some of them extre­mely arid, through mobility and adapt­a­tion, is one of the basic condi­ti­ons of the pasto­ral society. The regions where I take pictures are parti­cu­larly affec­ted by climate change, and have been for a long time. In recent years, for example, periods of heat and drought, heavy rainfall with flooding and shifts in the rainy season have inten­si­fied in South Sudan and parts of Ethiopia. Climate change is affec­ting the migra­tory behaviour of people in the affec­ted rural areas; there is an incre­asing number of conflicts between neigh­bou­ring peoples when groups enter foreign terri­to­ries. This is reflec­ted in the series of pictures. It includes, for example, dilapi­da­ted buildings belon­ging to the Borana, who left their area due to the drought. At the same time, peoples such as the Gabbra or the Rendille are adapting their tents to the changing condi­ti­ons by integra­ting plastics into their living struc­tures. These materi­als protect the interior from the penetra­tion of wind, sand and water.

As their way of life changes, tradi­tio­nal forms of their archi­tec­ture are also being lost. If the struc­tures made of wooden sticks, grasses or clay are not conti­nuously repai­red and renewed, they will disappear.

The verna­cu­lar archi­tec­ture of Africa is a topic that was largely negle­c­ted as a result of the colonial era. The Europeans brought their own archi­tec­tu­ral language with them. The intro­duc­tion of materi­als such as concrete and iron influen­ced not only the physi­cal struc­ture of the buildings, but also the cultu­ral identity of the peoples. The dominance of European archi­tec­ture, especi­ally in cities, remained after the end of the colonial era, and tradi­tio­nal building methods were often conside­red outda­ted. Countering this tendency with a diffe­rent perspec­tive is a central aspect of the work.

My book Pastoralist Homes has just been published by Steidl, edited by Thomas Schirmböck. 154 illus­tra­ti­ons, texts by Germain Loumpet, Thomas Schirmböck and Winfried Bullinger.

 

 


Nyangatom, Nomadin, Äthiopien 2009