Obwohl sie noch jung ist, schmerzt Frau Aktenkoffer fast alles. Es schmerzt sie, wenn sie nachts aus der Massage-Praxis über ihrer Wohnung seufzende Stimmen hört. Davon bekommt sie Magenbrennen. Sie reisst dann im Pyjama ihre Wohnungstür auf, steht einen Augenblick auf der Fussmatte, krümmt sich vor Schmerz und schliesst dann die Tür wieder. Auch schmerzt es Frau Aktenkoffer, wenn das Ehepaar in der Wohnung unter ihr frühmorgens musiziert. Das beschert ihr jedesmal ein metallisches Pulsieren im linken Backenzahn. Sobald sie jedoch im Treppenhaus steht und im Begriff ist, bei den Nachbarn zu klingeln, nimmt der Schmerz zu, worauf sie gleich wieder in ihre Wohnung zurück geht. Am meisten schmerzt es Frau Aktenkoffer, wenn die Nachbarin auf ihrem eigenen Stockwerk Besuch bekommt. Das Gelächter breitet sich in ihrer Hüfte aus, die sich umso mehr versteift, je länger der Besuch bleibt. Manchmal sieht sie sogar am nächsten Morgen noch Männerschuhe auf der Fussmatte der Nachbarin. In diesen Momenten wird in ihrer Brust ein langes hohles Pfeifen laut, wie wenn der Wind durch ein Felsloch bläst. Sie schmeisst dann sogleich wieder die Tür zu.
Gestern Abend war Frau Aktenkoffer mutig. Als sie hört, wie der Masseur von über ihr seine Massagepraxis verlässt, öffnet sie sogleich die Tür und fängt ihn ab: Es beschere ihr Magenbrennen, wenn sie nachts seufzende Stimmen aus der Praxis über ihr höre. Davon liege sie stundenlang wach. Der hagere Mann steht in Sandalen vor ihr und entschuldigt sich, er sei nicht sicher, wovon sie spreche. Frau Aktenkoffer schaut ihn jetzt erst richtig an: Seine dicken Lippen und die schwarzen Locken springen vor ihren Augen munter auf und ab, ohne dass sie mitbekommt, was er sagt. Plötzlich spürt sie ein langes Ziehen in beiden Innenschenkeln – es setzt sich bis in ihren Unterleib fort.
Heute Morgen bleibt die Wohnungstür von Frau Aktenkoffer geschlossen; aus ihrer Wohnung dringen seufzende Stimmen. Auf ihrer Fussmatte ruhen Sandalen.
Text von Alba Polo. Eine Publikation ist in Planung und soll 2025 im Skalpell Verlag, Zürich, erscheinen.
Frau Aktenkoffer öffnet sich
Obwohl sie noch jung ist, schmerzt Frau Aktenkoffer fast alles. Es schmerzt sie, wenn sie nachts aus der Massage-Praxis über ihrer Wohnung seufzende Stimmen hört. Davon bekommt sie Magenbrennen. Sie reisst dann im Pyjama ihre Wohnungstür auf, steht einen Augenblick auf der Fussmatte, krümmt sich vor Schmerz und schliesst dann die Tür wieder. Auch schmerzt es Frau Aktenkoffer, wenn das Ehepaar in der Wohnung unter ihr frühmorgens musiziert. Das beschert ihr jedesmal ein metallisches Pulsieren im linken Backenzahn. Sobald sie jedoch im Treppenhaus steht und im Begriff ist, bei den Nachbarn zu klingeln, nimmt der Schmerz zu, worauf sie gleich wieder in ihre Wohnung zurück geht. Am meisten schmerzt es Frau Aktenkoffer, wenn die Nachbarin auf ihrem eigenen Stockwerk Besuch bekommt. Das Gelächter breitet sich in ihrer Hüfte aus, die sich umso mehr versteift, je länger der Besuch bleibt. Manchmal sieht sie sogar am nächsten Morgen noch Männerschuhe auf der Fussmatte der Nachbarin. In diesen Momenten wird in ihrer Brust ein langes hohles Pfeifen laut, wie wenn der Wind durch ein Felsloch bläst. Sie schmeisst dann sogleich wieder die Tür zu.
Gestern Abend war Frau Aktenkoffer mutig. Als sie hört, wie der Masseur von über ihr seine Massagepraxis verlässt, öffnet sie sogleich die Tür und fängt ihn ab: Es beschere ihr Magenbrennen, wenn sie nachts seufzende Stimmen aus der Praxis über ihr höre. Davon liege sie stundenlang wach. Der hagere Mann steht in Sandalen vor ihr und entschuldigt sich, er sei nicht sicher, wovon sie spreche. Frau Aktenkoffer schaut ihn jetzt erst richtig an: Seine dicken Lippen und die schwarzen Locken springen vor ihren Augen munter auf und ab, ohne dass sie mitbekommt, was er sagt. Plötzlich spürt sie ein langes Ziehen in beiden Innenschenkeln – es setzt sich bis in ihren Unterleib fort.
Heute Morgen bleibt die Wohnungstür von Frau Aktenkoffer geschlossen; aus ihrer Wohnung dringen seufzende Stimmen. Auf ihrer Fussmatte ruhen Sandalen.
Text von Alba Polo. Eine Publikation ist in Planung und soll 2025 im Skalpell Verlag, Zürich, erscheinen.