SOHO IM APRIL 2020 von Barbara Probst

Wenn ich jetzt in den Wochen des Shutdowns in meinem Viertel in Soho spazie­ren gehe, befinde ich mich meist ganz allein in den Straßen der still­ge­leg­ten Stadt. Die Menschen fehlen, die laut rattern­den Lastwagen, die unzäh­li­gen Autos und das Kratzen der Flugzeuge über den Himmel. Verstummt sind die lärmen­den Baumaschinen, die Pressluftbohrer, das Hupen, die Motoren, die Sirenen, die Stimmen.

 

 

 

Die Stille um mich ist reglos und schwer, beladen mit der Frage nach den fehlen­den Menschen, die bis vor Kurzem hier mit gewohn­ter Betriebsamkeit und zähem Alltagseifer ihren Geschäften nachgin­gen. In den öden Straßen wird mir offen­bar, dass wir alle aus unserem Leben heraus­ge­fal­len sind. Was wird das Morgen bringen? So beharr­lich diese Frage in die Luft der leeren Straßen drängt, so beschwö­rend schön scheint auch gerade deren Verlassenheit auf. Als hätte sich Soho, das noch unlängst mit den schil­lern­den Versprechen der Konsumwelt aus den Nähten platzte, in kürzes­ter Zeit alles Überflüssigen entle­digt, um nur noch die nackten Straßenzüge übrig zu lassen, die sich jetzt wie eine Filmkulisse vor mir aufbauen. Hohl, menschen­leer und gespens­tisch, aber auch unver­hüllt und schön. Die erzäh­le­ri­schen Fassaden der Cast-Iron-Architektur und ihre Farben schei­nen plötz­lich in der Ereignislosigkeit und Ruhe ihre ganze Kraft zu entfal­ten. Sind wir hier in dieser Leere näher an der Wahrheit angelangt?

 

 

Die Sohlen meiner Turnschuhe quiet­schen auf dem glatten Stein der breiten Gehwege in die Stille hinein. Ich höre mich, also bin ich. Ich nehme mich wahr als eine Figur in der Stadt. Wie eine Figur auf den leeren Plätzen in einem von Giorgio de Chiricos  metaphy­si­schen Bildern. Plötzlich bin ich da mit allen meinen Sinnen. Welch ein reicher Schatz das Leben doch ist, in dem Augenblick, in dem sich das Sein in ein einver­nehm­li­ches Verhältnis zur Welt setzen kann.

 

 

 

 

 

Abbildungen von oben nach unten: Exposure #151, #152, #150, #158, #155,  alle © VG Bild-Kunst, Bonn