HANDLUNGEN: ERINNERUNGEN & ALLTÄGLICHES, 1970–1975 von Helmut Schweizer

 

 

 

 

 

 

Ist das Denken ein Produkt der Materie? Handeln und Erleben. Einige Gedanken zu meinen seit Herbst 1969 entstan­de­nen Arbeiten.

Meine Arbeiten sind Auseinandersetzungen mit meiner natür­li­chen Umwelt, die unser aller Umwelt ist. Ich fragte mich: Wie erfahre ich etwas über meine Umwelt? Und das „Wie“ wurde mir zum Problem. Ich fing an, Strukturen des Denkens in der Materie zu suchen.

Frage: Befinden sich die Natur und der Mensch in einem geschlos­se­nen System, dessen Gesetzmäßigkeiten an Beispielen erfah­ren werden müssen?

Behauptung: Will der Mensch etwas über die Natur erfah­ren, so operiert er mit ihr, an ihr, er handelt und erkennt. Denken ist ohne Operation, ohne Handeln, nicht möglich. Passives Erleben, Kontemplation erscheint mir nur möglich, nachdem der Denk- und Wahrnehmungsapparat durch Operation struk­tu­riert wurde.

 

 

 

 

 

 

 

Der Zusammenhang von Operation und Aggression. Denken ist Eingreifen in Fremdes, Eigenständiges.

Frage: Wer setzt wo dem Denken, der Operation, der Erkenntnissuche Grenzen? Was ist ein relevan­ter Gedanke und welcher wäre besser nie gedacht? Die Natur zwingt den Menschen in die Position des Angreifers. Denn will er etwas über sie erfah­ren, muß er operie­ren, verän­dern, letzt­lich zerstö­ren. Das opera­tive Experiment läßt sich als Ausgangsverfahren mensch­li­cher Erkenntnissuche feststellen.

Natur zu benüt­zen erscheint unumgäng­lich. Die Natur zwingt dem Menschen eine Form der Erkenntnissuche auf, die dieser dann auf sich selbst, das Menschliche und auf das von ihm Produzierte, das Künstliche, überträgt.

Einflüsse der Materie auf den Geist, das Denken wird geprägt. Den sinnli­chen Reaktionen dieses so entstan­de­nen Denkens scheint die Materie wiederum endlich ausge­lie­fert zu sein.

Frage: Wer operiert wie, mit welcher Sensibilität, mit welcher Achtung vor selbstän­di­gen Einheiten? – Macht und Erkenntnis.

Meine Arbeiten sind Eingriffe in die Naturumgebung, um etwas über die Natur zu erfah­ren. In meinen Arbeiten wird an Natürlichem wie Bäumen, Blumen, Gräsern, Pilzen, Steinen herum­ge­schnit­ten, herum­ge­ris­sen, abgebro­chen, abgekratzt, abgeris­sen, wegge­nom­men, wegge­ho­ben, entfernt, abgestreift; es wird zerrie­ben, zerquetscht etc. Mein eigener Körper meist Instrument – oft kleine Maßverhältnisse, Minimalhandlungen.

Bekannte Eigenschaften und Ordnungen der Materie werden demons­triert. Demonstrative Veränderungen.

In Serien, Bilderfolgen werden die verschie­de­nen Eingriffe ausge­wer­tet. Genügend Material wird zusam­men­ge­stellt, damit sich beim Betrachter ein Verständnis entwi­ckeln kann. – Auf das Ganze der Natur gesehen oft kaum wahrnehm­bare Akte der Zerstörung in der Natur erschei­nen brutal und verwerflich. –

Hinweise auf Zusammenhänge von Handeln und Erleben, Materie und Denken – Veränderung, Ablauf, Zeit – alles soll sicht­bar und einseh­bar sein, meine Erkenntnisse sollen verfüg­bar sein, möglichst repro­du­zier­bar in Zeitschriften, Film und Fernsehen.

Ich will versteh­bare Dinge machen, die auch anderen helfen, sich selbst und ihre Umwelt zu verste­hen. Transparenz, Nachprüfbarkeit, Brauchbarkeit sind für mich Kriterien, bewuß­tes Erleben und verant­wor­tungs­vol­les Handeln mein Ziel.

Meine Aktionen sind nicht vollkom­men neu. Ähnliche Vorerlebnisse sind bei vielen vorhan­den. Natur wird oft ähnlich erlebt.

Handlungen, wie die von mir demons­trier­ten, haben die meisten als Kinder erprobt. Die dokumen­tier­ten Zustände sind nicht einma­lig. Nur empfinde ich diese Eindrücke meist bedeu­ten­der als andere, vielschich­ti­ger. Ich isoliere sie, mache sie wahrnehm­ba­rer und stelle sie sodann den anderen wieder zur Verfügung.

Entdecker und Poet sein, neue Geschichten erzäh­len, Gedanken über das Spurenhinterlassen, das Zeichenaufprägen, die Zerstörung von Ursprünglichem, die Zeitlichkeit des Hergestellten wahrnehm­bar machen.

Erkenntnis ist Produkt von Gewalt, von Machtausübung. Achten wir darauf, wer Macht ausübt.

Ich hoffe, daß die „Schönheit“ meiner Arbeiten die angespro­che­nen Probleme nicht verschlei­ert. Mir geht es nicht um die Verschönerung oder gar Verschleierung unserer Existenz, sondern um Kenntnisse und Fähigkeiten zu ihrer Befragung, zur Analyse ihrer Bedingungen.

 

(Aus einem Vortrag, gehal­ten im Kunstverein Wolfsburg, Februar 1974)